„Krieg in Europa“ – ZUERST! auf dem ersten Kongreß der „Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik“

29. November 2015
„Krieg in Europa“ – ZUERST! auf dem ersten Kongreß der „Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik“
International
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Foto: Symbolbild

Mitte Oktober fand im nordhessischen Bad Sooden-Allendorf der erste Kongreß der „Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik“ statt. Im Mittelpunkt stand das Szenario „Krieg in Europa“ 

Die meisten Gäste, die ihr Wochenende am 17. und 18. Oktober im idyllischen Kurort Bad Sooden-Allendorf verbrachten, dürften sich fernab von der Weltpolitik gefühlt haben. In der rund 8.350 Einwohner zählenden Fachwerkstadt erregen gewöhnlich höchstens Veranstaltungen von der Klasse eines Kirchenkonzerts mit dem Opernsänger Gunther Emmerlich Aufsehen. Doch an diesem Herbstwochenende standen Themen von geopolitischer Brisanz zur Debatte. Die junge, im Mai dieses Jahres gegründete „Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik“ (GfIF) hatte zu ihrem ersten Kongreß geladen. Freilich blieb die Veranstaltung von seiten der etablierten Medien weitestgehend unbeachtet. Die Relevanz des Themas verriet jedoch bereits der Titel der Veranstaltung: „Krieg in Europa“. Die Ukraine als „Zentrum der neuen Ost-West-Konfrontation“, so der Untertitel des Kongresses, mag dabei eines der offensichtlichsten Beispiele für die weltweite Ausdehnung der US-Hegemonie sein. Doch die prominenten Referenten, darunter der russische Schriftsteller und Politiker Nikolai Starikow, der Historiker und Publizist Wolfgang Effenberger sowie der Friedensaktivist und rebellische Bundeswehrleutnant Christian Neumann, sahen darin nur eines von vielen Beispielen für die neuen Formen der hybriden Kriegsführung des 21. Jahrhunderts.

Auch die aktuellen „Flüchtlingsströme“, so Effenberger vor etwa 50 Gästen im ersten Vortrag des Kongresses, dienten als „Waffe gegen unkooperative Regierungen“. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts fürchte Washington ein enges Bündnis zwischen einem mächtigen, bevölkerungsreichen Rußland und einem export- und wirtschaftsstarken Deutschland. Die Verhinderung dieser „eurasischen Umarmung“ sei stets eine wesentliche Konstante der Außenpolitik Washingtons gewesen, betonte Effenberger. Gemeinsam mit dem ehemaligen langjährigen CDU-Bundestagsabgeordneten und Verteidigungspolitiker Willy Wimmer hat Effenberger 2014 das Buch Wiederkehr der Hasardeure: Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute veröffentlicht. Die Bemühungen der USA, aber auch Großbritanniens, Deutschland als mitteleuropäische Macht auszuschalten, ließen sich bis ins Jahr 1871 zurückverfolgen, so Effenberger. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel könne sich unter dem Schutzschirm Washingtons keineswegs dauerhaft sicher fühlen – hinter Effenberger war die Landkarte Osteuropas zu sehen. Bereits 1994 sei im damals für die US-Außenpolitik maßgeblichen Training and Doctrine Command-Pamphlet 525-5, zu deutsch „Schrift 525-5 des Heereskommandos für Ausbildung, Einsatzschulung und -entwicklung“, festgehalten worden, daß der „Krieg der Zukunft“ – anders als im 20. Jahrhundert – nur noch „Verbündete auf Zeit“ kenne.

Neben Effenberger, der unter anderem im linkssozialistischen und antiimperialistischen Online-Magazin Neue Rheinische Zeitung publizierte, sprach ein weiterer ehemaliger Bundeswehroffizier. Jochen Scholz, zwölf Jahre lang Stellvertreter der Bundesrepublik Deutschland in NATO-Gremien und von 1994 bis 2004 Referent im Verteidigungsministerium, machte aus seiner politischen Gesinnung keinen Hehl. Nach seinem Vortrag „Ursachen und Folgen der tektonischen Verschiebungen im globalen Kräfteverhältnis“ forderte er einen entschiedeneren Protest von der Führungsspitze „seiner Partei“, nämlich der Linken, gegen die erdrückende US-Hegemonie in Deutschland. Das auf die Expansion der amerikanischen Konzerne zielende „Transatlantische Freihandelsabkommen“ TTIP sei nichts anderes als ein „ökonomisches Äquivalent zur NATO“, zitierte Scholz zuvor den US-Botschafter für die EU, Anthony L. Gardner. Der Oberstleutnant a.D. betonte, die Vereinigten Staaten würden pro Tag zum Ausgleich ihres Zahlungsbilanzdefizits zwei Milliarden Dollar benötigen. „Die USA sind darauf angewiesen, daß der Rest der Welt ihre Schulden finanziert“, unterstrich Scholz. Washington setze seit Jahrzehnten auf verschiedene Wege, seine globale Dominanz auszubauen – zum einen in Gestalt des Exports der US-amerikanischen Popkultur, zum anderen mit dem Versuch, dem eigenen Rechtssystem weltweite Gültigkeit zu verleihen. Letzteres erwiesen vor allem die aktuellen Klagen aus den USA gegen den VW-Konzern sowie die führende Rolle der US-Justiz beim drohenden Prozeß gegen den FIFA-Präsidenten Sepp Blatter.

(…)

Nikolai Starikow, zweifellos der prominenteste der Referenten in Bad Sooden-Allendorf, spann diesen geopolitischen Faden weiter. Es gehöre zur Strategie der traditionellen angelsächsischen Geopolitik, ein Land in zwei verfeindete Lager aufzuspalten. Aktuell verkörpere die Ukraine – die Starikow als Teil der russischen Nation betrachtet – den Moskau feindlich gesinnten Teil eines einzigen Volkes. Auch der Ansturm von Asylbewerbern auf Deutschland sei im Interesse der Vereinigten Staaten, bekräftigte der Gründer der allrussischen „Partei Großes Vaterland“, es handele sich um die bewährte Praxis des „gesteuerten Chaos“. Rußland jedoch habe keine Angst vor einem souveränen Deutschland. Seinen begeisterten Zuhörern schlug Starikow zwei Möglichkeiten vor, um die Souveränität ihrer Heimat wiederherzustellen. Die erste bestünde darin, die US-amerikanischen Truppen zum Verlassen des Landes zu zwingen. Andernfalls müsse sich Deutschland aber wenigstens von der Europäischen Zentralbank (EZB) lösen. Gelänge das nicht durch einen Austritt aus der EU und deren damit verbundenen Zerfall, so solle die Bundesregierung wenigstens die alleinige Oberhoheit über Brüssel erlangen, unterstrich Starikow.

Einen Einblick darin, wie es bei der Bundeswehr um die Haltung gegenüber Rußland sowie der NATO-Expansion bestellt ist, gewährte Christian Neumann. Der aktive Fachdienstoffizier im Rang eines Oberleutnants war von 2012 bis 2014 Sprecher des „Darmstädter Signals“, einer der Friedensbewegung verbundenen, linken Plattform von rund 130 ehemaligen sowie aktiven Bundeswehroffizieren. In seinem Referat zu den „gesteigerten militärischen Aktivitäten der NATO in Osteuropa“ versuchte er sich auch an einem Stimmungsbild der Truppe: Demnach seien viele Bundeswehrsoldaten tendenziell prorussisch eingestellt. „Selbst die Verteidigung Deutschlands ist – unter den heutigen Durchhalteverhältnissen – auf Dauer nicht machbar“, warnte Neumann zugleich angesichts des Mangels an Personal und Material. Allein 2016 sollen zugleich sechs neue Hauptquartiere des Nordatlantikpakts in Osteuropa einsatzbereit sein. „Schon das kleinste Streben nach Alternativen zur US-Hegemonie wird rigoros unterdrückt“, berichtet der Offizier. Bereits wenige Stunden zuvor hatte Scholz vor einem „katalytischen Ereignis“, ähnlich dem Angriff auf Pearl Harbor durch Japan 1941, gewarnt, das Washington eine willkommene Legitimation für einen militärischen Eingriff bieten könnte. Wie dieses Szenario ermöglicht wird, zeigte der ehemalige Lufthansa-Pilot Peter Haisenko am Beispiel der MH17- Flugzeugkatastrophe bei Donezk vom Juli 2014.

Ohne Zweifel: Der GfIF ist es innerhalb von zwei Tagen gelungen, die Akteure und Motive hinter der Ukraine- Krise – vor allem aber die geopolitischen Absichten Washingtons – aus verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten. Die GfIF-Vorsitzende Friederike Beck, die in ihrem Vortrag zugleich die umfassende Einflußnahme transatlantischer Netzwerke und Nichtregierungsorganisationen in der Ukraine detailliert schilderte, berichtete ZUERST! von den Schwierigkeiten, die mit der Gründung der Gesellschaft verbunden waren. „Wir sind partei- und organisationsunabhängig und verstehen uns als lagerübergreifend, jenseits von links und rechts“, betonte sie. Man sehe sich vor allem als Think Tank, zwei große und mehrere kleine Veranstaltungen sollen pro Jahr stattfinden. Für den März 2016 sei ein Kongreß zu Syrien geplant. „Dazu wollen wir auch einen Referenten aus dem arabischen Raum einladen“, erklärte Beck ZUERST!. Die wohl wichtigste Erkenntnis des ersten Kongresses der GfIF hatte, eher beiläufig, Pohlmann geäußert: „Souveränität wird nicht rechtlich zugesprochen – man muß sie sich nehmen.“ Denn, so hatte ein anderer Referent kurz zuvor, beinahe ergänzend, betont: „Die deutsche Frage ist auch eine europäische Frage.“ (Sven Häusler)

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